Martenstein, Impfgegner und die jahrtausendealte Verkennung von Antisemitismus

Darf sich jeder Demonstrant in einer selbsternannten Opferrolle einen gelben Stern auf die Brust kleben, ohne dafür kritisiert werden zu wollen, dass er sich der Völkermord-Bagatellisierung und damit eines klassischen antisemitischen Instruments bedient?


Harald Martenstein hat sich Anfang Februar 2022 mit u.a. folgender These aus dem Tagesspiegel katapultiert (hier in Gänze):

“Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch.” Der Grund dafür sei, weil die Träger sich ja mit den Juden identifizieren.

“Mein Beitrag wurde gelöscht, aber ich bin doch kein schlechter Mensch!”

Martenstein sah sich wohl als Opfer der Cancel Culture seines privaten – in finalen Fragen entscheidungsbefugten – Arbeitgebers und kündigte, nachdem er die Konsequenzen für seine Thesen ernten musste, weil sein Arbeitgeber seine Meinung nicht teilte. Jetzt ist er ja bei der WELT gut aufgehoben. Auf Kritik mit Weggang reagieren ist wahrlich gelebte Debattenkultur. Viel wichtiger als Kritik ist ja immerhin, dass man sich nur in der Blase der eigenen Überzeugung aufhält, denn bekanntermaßen wächst man dadurch am meisten. Herzlichen Glückwunsch.

Ich argumentiere gegen Martensteins Thesen wie folgt: Der Vergleich zwischen Judenstern-tragenden Impfgegnern im 21. Jahrhundert und Judenstern-tragenden Juden in der Hoch-Zeit jüdischer Diskriminierung in Nazi-Deutschland hinkt gewaltig aufgrund folgender Punkte: A) Absolute Freiheit gibt es nie und B) Identitätsbasierte Diskriminierung passiert auf einer anderen Ebene als Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Gesundheit.

Vorab: Ich finde es bemerkenswert, dass ausschließlich der Vorwurf von Antisemitismus eine Rolle spielt bei Martensteins Grenzziehung zwischen Akzeptablem und Verwerflichem. Öffentliche Kritik und Konsequenzen durch den Arbeitgeber sind verwerflich; die Verharmlosung eines Völkermordes und dessen struktureller Grundlagen sind akzeptabel. Läuft.

Zu A) Absolute Freiheit gibt es nicht.

Wir leben in einer Gesellschaft. Nähe zu anderen Menschen ist die Natur der Sache. Beherzigte jeder Mensch ausschließlich sein oder ihr persönliches Bedürfnis ohne Rücksicht auf Mitmenschen, gäbe es keine Freiheit, denn alle würden sich gegenseitig einschränken. Freiheit kann also nicht absolut sein. Eine Art Null-Summen-Kuchen. Ich kann mein Kind zwar gegen Masern ungeimpft lassen und mich dann darüber beschweren, dass es nicht in die Kita darf. Aber daran wird sich nichts am Masernschutzgesetz ändern, denn weitaus mehr Menschen werden durch die Ansteckungsgefahr weniger Kinder einer Gefahr ausgesetzt, die im schlimmsten Fall (= zu viele Ungeimpfte) derartige Konsequenzen zur Folge hat, dass die Freiheit ALLER eingeschränkt wird.

Zur Erinnerung: Die Impfung schützt nicht nur die geimpfte Person vor einem schweren Krankheitsverlauf. Sie reduziert ebenfalls nachweislich die Virenlast und damit die Ansteckungsgefahr. Insbesondere für Menschen, die sich aufgrund einer Erkrankung nicht impfen lassen können. Ich möchte mir manchmal eine Scheibe Wut von Impfgegnern abschneiden: Wieso dürfen die sich über Freiheitsdiebstahl aufregen, wenn sie keinerlei Rücksichtsempfinden besitzen für ihren Beitrag zur Freiheitseinschränkung anderer? Das ist halt die Null-Summen-Krux an der Freiheit: Was der eine verliert, bekommt der andere, und andersherum. Zumindest sehr, sehr oft.

Zu B) Identitätsbasierte Diskriminierung passiert auf einer anderen Ebene als Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Gesundheit.

Das bringt mich zur Unterscheidung zwischen Diskriminierung und Impfpflicht. Juden, die antisemitischen Strukturen ausgesetzt sind, können nichts tun, um sich von den diesen Vorurteilen zu trennen. Sie können sich weder des Judentums entledigen noch ihren jüdischen Stammbaum ändern. Ein gesunder Impfgegner hingegen kann sich… nun ja, impfen lassen.

Fakt ist, dass Juden und Antisemitismus-Forscher immer schon hervorgehoben haben, dass latenter Antisemitismus so unscheinbar wie mächtig ist. Denn das Herunterspielen anti-jüdischer jahrtausendealter Gewalttaten, Verfolgung und Pogromen sowie dem Holocaust ist eines der zentralen Instrumente von Antisemiten. Kommt also nicht so gut, wenn man den Holocaust, Nazi-Deutschland und alle dazugehörigen Symbole und Aspekte in einen thematisch anderen Kontext setzt und sich selbst in einer Opferrolle betrachtet, die dem brutalen, systematisch und ideologisch verankerten Ausrottungsversuchen an Juden durch das deutsche Reich gleichkommen soll. Aber gut, dass Martenstein uns nochmal erklärt, was antisemitisch ist und was nicht mit dem schlüssigsten aller Argumente: Antisemitisch ist es nicht, weil ich alles mit allem gleichsetzen kann, wenn es mir persönlich in den Kram passt.

Es ist die perfide, ideologische und nicht-temporäre Natur von struktureller Diskriminierung, die den gewaltigen Unterschied ausmacht zwischen Impfgegnern und zum-Judenstern-Tragen verpflichteten Juden. Ich kann mich in jeder Freiheitseinschränkung, die ich gesellschaftlich erlebe, als Opfer inszenieren. Ich kann aber auch einfach mal drei Schritte zurücktreten und das Erlebte kritisieren und anprangern, ohne mich mit Opfern perfider, struktureller Diskriminierung gleichzusetzen.

Können wir die Impf-Maßnahmen kritisieren? Absolut. Sollten wir auch! Passiert ja auch. Die Diskussion über Impfpflicht und Impfnachweise geschieht im Kontext des konkreten Falls Coronavirus, in einer seit zwei Jahren ermüdeten Gesellschaft – nicht aber gesamtheitlich im Kontext aller unter der Sonne existierenden Impfungen und ihren Gegnern.

Aber hier widerspricht Martenstein sich selbst: Er kritisiert die permanente Verteufelung Hitlers, indem ständig irgendwer mit Hitler verglichen wird, was wahrheitsgemäß oft passiert. Aber Martensteins Argument folgt eben jener Verteufelungs-Logik: Er verdammt die Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Gesundheit und In-Schach-Haltung eines Virus, der in kürzester Zeit unser ohnehin brüchiges Gesundheitssystem extrem schwer belastet und überdurchschnittlich viele alte und junge Menschenleben gekostet hat – und setzt sie gleich mit dem Ausrottungsversuch von Juden, die dadurch aufgrund ihrer religiösen, kulturellen, gesamtheitlichen Identität zu Opfern wurden.

Das ist so ein bisschen so, als würde man sich darüber aufregen, dass Gesetze existieren, die bestimmte Verhaltensweisen gegenüber anderen Menschen oder der Gesellschaft bestrafen. Sich deswegen als Opfer von identitätsbasierter gesellschaftlicher Ausgrenzung zu sehen verkennt total, wie z.B. Antisemitismus funktioniert. Und das verharmlost nun mal, was das Endziel der Nazis war: Die gewalttätige und komplette Ausrottung einer Identität.

Martenstein übersieht den entscheidenden Unterschied zwischen nicht-Juden und Juden: die einen werden grundsätzlich immer gefährdeter sein in bestimmten Situationen als die anderen. Das ist die Natur von identitätsgebundener Diskriminierung. Die nicht-Betroffenen werden stets weniger benachteiligt sein als die Betroffenen, und letztere können nie etwas daran ändern. Zum Beispiel sich impfen lassen. Oder eine Maske tragen.

Ich werde sowieso nie verstehen, wieso der Vorwurf, man benehme sich diskriminierend (antisemitisch/rassistisch/antislawisch – you name it), auf so unglaublich viel Empörung trifft. Man könnte sich stattdessen ja auch mal damit auseinandersetzen, warum nach all den Jahrhunderten wiederholter struktureller Diskriminierung gegen bestimmte Menschengruppen (übrigens immer die gleichen) stetig so viel Emotion im Spiel ist. Und warum viele Menschen einfach die Nase voll davon haben, dass sich jeder dahergelaufene Demonstrant einen gelben Stern auf die Brust kleben darf ohne dafür kritisiert werden zu wollen, dass er eindeutig einen millionenschweren Massenmord bagatellisiert und sich damit antisemitisch verhält. Wo hört das Tragen des Judensterns auf? Für die Martensteins dieser Welt vermutlich bei Klimawandelaktivisten, die sich in der Opferrolle einer klimaschädlichen Politik sehen. Antisemitismus existiert auch dann, wenn man ihn nicht sofort erkennt.

Ich denke übrigens nicht, dass Debatte und Dialog dasselbe sind. Debatte kann rau, beleidigend, persönlich werden. Insbesondere in einer Demokratie. Dialog hingegen beinhaltet immer eine gute Portion gegenseitiges Verständnis und Zuhören. Wer Debatte will, muss Dialog nicht können, darf ihn aber auch nicht erwarten.


7 responses to “Martenstein, Impfgegner und die jahrtausendealte Verkennung von Antisemitismus”

  1. nouseforislam

    PS: Ich hoffe, Sie reden nicht mit “Ungeimpften”. Oder nur “Einmalgeimpften”. Bitte zeigen Sie Konsequenz. Machen Sie sich eine Liste. Verweigern Sie Kontakte mit Impfgegnern. Ach was, fangen Sie schon bei den Kritikern der Massnahmen an. Am besten fragen Sie auch nach einer Masernimpfung. Und Tollwut. Pocken. AIDS. Lassen Sie sich den gelben Ausweis zeigen. Gelb? War da nicht was? Ach, reiner Zufall. Und kaufen Sie nicht bei “Spaziergängern” ein. Kauft nicht bei “Spaziergängern”. Oh, Entschuldigung, immer diese schlimmen Vergleiche. Und Cancel culture ist wohl eine Nazi-Erfindung. Oder waren es die Antisemiten? Die gibt es ja gar nicht, die Cancel culture meine ich. Rowling ist eine Lügnerin. Und Broder auch. Verdammt, der ist ja Jude. Na ja, dann halten Sie sich an den “Antisemitismus”beauftragten. Herr Blume kann Ihnen das genau erklären. Der hat “gute” Beziehungen zum Simon-Wiesenthal-Center………hahahaha…….einen schönen Tag, Pauline.

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    1. Unschlagbare Argumente, die meine Analyse mit ihrer Konkretheit schlicht aushebeln. Sie sind auf meine Thesen ausführlich und im Detail eingegangen. Danke für das konstruktive, prämissenbasierte Feedback. So geht reifer Diskurs.

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      1. nouseforislam

        Ärgern Sie sich, dass Sie nicht recht bekommen haben? Mein Beileid. Ich habe mir übrigens Ende März mein Corona abgeholt – die J & J-Impfung vom Mai letzten Jahres war wohl durch – 7 Tage wie eine leichte Grippe und erledigt war das Ganze. Und das mit 61, ungeboostert. Ich müsste laut Klabauterbach eigentlich mausetot sein. Jetzt fühle ich mich schlecht. Nein, nicht wegen Long Covid, sondern weil ich Karls Erwartungen nicht erfüllt habe. Aber keine Sorge, unsere Impffetischisten werden wieder aus ihren Löchern kriechen. Dann können auch Sie wieder glücklich sein. Und in der Zwischenzeit, Pauline, empfehle ich die 4te und 5te Impfung, natürlich mit Maske. Ein schönes Leben noch.

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      2. Ganz im Gegenteil; ich bin beeindruckt von der Schärfe Ihres Verstands und Fähigkeit zur argumentativen Konkretheit. Wie gesagt, meine Argumente sind ja im Detail wiederlegt.
        Und Sarkasmus liegt mir einfach nicht so gut wie Ihnen.

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      3. nouseforislam

        Tja, die Menschen sind eben verschieden….und Ihnen bleibt ja noch die Hoffnung, dass Lauterbach doch noch triumphiert……in diesem Sinne.

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      4. Ich löse mal meinen Sarkasmus:
        Im Sinne der Verbesserung unserer Streitkultur finde ich es schlicht schade, dass Sie nicht nur polemisch schreiben, sondern ein Strohmann-Argument nach dem anderen bedienen. Allein der Sprung zu J.K. Rowling (Zusammenhang?) ist eine Meisterleistung. Ich lege Wert auf rhetorische Logik und hätte mich über eine konstruktive Weiterführung der Inhalte gefreut. In diesem Sinne.

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  2. nouseforislam

    Geben Sie sich ein Impfabo und lassen Sie sich einen Chip wie in Schweden unter die Haut spritzen. Und den digitalen Impfpass nicht vergessen. Menschen wie Sie haben die Freiheit nicht verdient. Aber vielleicht ist in China oder bei Onkel Putin noch ein Plätzchen frei……zwinker.

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