Meinung: Es gibt in der öffentlichen Debatte kein Recht auf Unschuldsvermutung.

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[Content Warnung: Hier wird explizit sexualisierte Gewalt erwähnt.]

Das hier ist meine persönliche Meinung.

Im Englischen gibt es diesen Spruch: You made your bed, now lie in it. Till Lindemann hat sich sein Bett selbst gemacht. Metaphorisch und wortwörtlich. Sich jetzt über Vorverurteilungen oder gar Cancel Culture zu echauffieren ist ganz schön realitätsfern.

Ich bin nicht verpflichtet, irgendjemanden als unschuldig zu betrachten, wenn ich nicht will. Die Unschuldsvermutung, die jetzt großflächig verlangt wird, greift hier nicht. Die trifft nur auf den legalen Kontext zu, sprich in einem Gerichtsverfahren, wenn es um konkrete Vorwürfe und Strafen geht. Gäbe es ein Gerichtsverfahren, wäre es in der Tat absurd, ihm dieses Recht abzusprechen oder es auszuhebeln.

[Sehr wertvoller Beitrag auch zu Verdachtsberichterstattung von Rezo dazu hier bei YouTube.]

Aber in dieser öffentlichen Debatte in den sozialen Medien – die inhaltlich im Übrigen weit über diese Vorwürfe hinausgeht – hat er kein Recht auf Unschuldsvermutung. Zumindest kein legales, und das moralische liegt im Auge des Betrachters. Jeder an dieser Debatte teilhabenden Person steht es frei, Lindemanns gesamtheitliches Verhalten nach Lust und Laune für sich einzuordnen. Das ist halt die Krux am Leben als Person in der Öffentlichkeit: Ich kann nicht so einfach steuern, welches menschliche Urteil andere über mich fällen, wenn ich mich freiwillig mit allen Taten, Worten und Liedtexten in der Öffentlichkeit präsentiere. Ich sag nur: “Etwas Rohypnol im Wein”.

Komplex ist die Debatte vor allem deshalb, weil es – objektiv gesprochen – nicht nur um Fingerzeigen auf Till Lindemann geht. Viele kritisieren eher die schwammige Grenze zwischen Kunst und Wahrheit, die Rammstein nie überzeugend belegt hat; die Art und Weise, wie Till Lindemann über Frauen spricht und singt (Links im Text). Verhält er sich wörtlich und schriftlich wie ein Sexist und Frauenfeind? Meiner Meinung nach absolut. Gehe ich persönlich davon aus, dass diese Vorwürfe nicht aus dem nichts heraus kommen? Tja.

Es ist sogar menschlich ziemlich dreist, dass Rammstein sich selbst ein “Recht” (Zitat aus einem ihrer Statements auf den sozialen Medien) auf Unschuldsvermutung sichern wollen, während mindestens eine der betroffenen Frauen über das langsame, gegebenenfalls unwillige Handeln der Polizei vor Ort klagte. Wie immer ein zu erwartender Schlag ins Gesicht für Missbrauchsopfer, die statistisch erwiesenermaßen regelmäßig vom Rechtssystem und besonders der Exekutive im Stich gelassen werden.

Das ist nämlich die eigentliche, durch Daten belegte Wahrheit: Die meisten Betroffenen sexualisierter Gewalt bringen ihre Erfahrungen nicht zur Anzeige, aber Dunkelziffern sowie die massenhaften Erfahrungsberichte während der MeToo-Bewegung stehen dem diametral entgegen.

Was genau erwartet Till Lindemann eigentlich, wenn er in der Öffentlichkeit so charmante persönliche Ideale von sich gibt wie keine Frauen-Freundschaften zu pflegen, denn “solch eine Freundschaft [würde] nur in Frage kommen, wenn ‘man sie vorher gepoppt hat, dann vielleicht schon, aber das muss passiert sein’”?

Hat er den Feminismus der letzten Jahrzehnte verpasst? Guckt die Band einfach keine Nachrichten? Ist Lindemann ein jüngst gelandeter Alien im Menschenkostüm? (Ich frage nur, weil er sich gerade so unglaublich dämlich verhält.)

You made your bed – now lie in it.


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