(c) Bild von Oliver Brauns auf Pixabay

Gestern veröffentlichte der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V. sein Positionspapier zur Landtagswahl am 6. Juni 2021. Die Positionierungen von CDU und FDP zeigen einmal mehr die unzulänglichen Kenntnisse sowie das fehlende Verständnis, die beim Anpacken der Themen Integration und Flucht in Sachsen-Anhalt unabdingbar sind.

Im Papier bezogen sich fünf unserer demokratischen Parteien zu insgesamt 30 Positionen, die den Weg zu einer gesamtheitlichen Verbesserung der Situation sowie Integration Geflüchteter in Sachsen-Anhalt ebnen sollen.

Die 11 übergreifenden Themenschwerpunkten führe ich unten auf. (Das Papier ist hier in Gänze zu finden. Ein vertiefender Blick in die einzelnen Forderungen lohnt sich für das gesamtheitliche Verständnis.)

Ich möchte nicht mit Zahlen überfordern, daher nur kurz im Überblick die Auswertung:

  • LINKE und Grüne stimmen beide in allen 30 Handlungsoptionen des Flüchtlingsrates überein.
  • Die CDU stimmt nur in 10 Punkten mit Ja. In den restlichen Punkten stimmt sie mit Nein oder enthält sich.
  • Die FDP stimmen in 18 Punkten mit ja. In den restlichen Punkten stimmt sie mit Nein oder enthält sich.
  • Die SPD enthält sich lediglich in 3 Punkten und stimmt in den restlichen zu.

Das Abstimmverhalten der CDU und FDP ist besonders interessant. Ich meine, klar ist bei einer Detailabstimmung mit Gegenstimmen zu rechnen. Aber nach Lektüre des Papiers bin ich tatsächlich verwirrt darüber, wie die beiden Parteien sich die Zukunft der jeweiligen Themenschwerpunkte praktisch vorstellen, denn anhand ihrer Stimmen sehe ich weder Plan noch zureichende Kenntnis.

Entweder stellt das Abstimmverhalten ein fehlendes Verständnis der Realität von Integrationsarbeit dar. Oder es soll lediglich den guten Willen signalisieren, ohne dass in der Substanz etwas getan werden soll. Ein bisschen so wie die Macht eines Papiertigers.

Beispiel: Der gleichberechtigte Zugang zu Bildung und Arbeit

Die CDU setzt sich selbsterklärend dafür ein, dass “für jede Person, die arbeiten möchte, die einzelfallbezogenen rechtlichen wie auch materiellen Bedingungen dazu geschaffen werden”.

Gleichzeitig erklärt sie, sich nicht dafür einzusetzen, dass “Bildungsmöglichkeiten für Sprache und Ausbildung flächendeckend verfügbar sind oder Fahrtkosten zum passenden Bildungsgang übernommen werden”.

Die FDP machen es sich einfach mit Enthaltung.

Aber Voraussetzungen und Möglichkeiten für Arbeitstätigkeit sind eng miteinander verwoben. Wie kann man das eine unterstützen, das andere aber nicht? Es ist völlig lebensfern, Integration in Form von Spracherwerb und Bildung zu fordern, aber gleichzeitig deren aktive Förderung im Sande verlaufen zu lassen. Der Wille zu arbeiten mag rechtlich unterstützt werden. Wie aber können sowohl der Einstieg in den Arbeitsmarkt gleichwertig geebnet wie auch faire Arbeitsbedingungen sichergestellt werden, wenn der Zugang zu entsprechenden Bildungs- und Sprachmöglichkeiten nicht flächendeckend gewährleistet ist, gerade in ländlichen Regionen?

Ein lebensnahes Beispiel sind nach wie vor afghanische Geflüchtete. Viele besitzen lediglich eine Duldung, die oft den Zugang zu Integrations- und Sprachkursen verbietet, teilweise über Jahre hinweg. Gleichzeitig spricht die Ausländerbehörde in Einzelfällen (entsprechend der Formulierung oben) eine Arbeitserlaubnis aus, zwangsweise gebunden an einen einzigen Arbeitgeber.

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich dabei entwickeln können, habe sich insbesondere in den letzten Jahren gezeigt, in denen Arbeitsrechte für Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten in besonders kritischem Licht standen: Unterwanderung des Arbeitsrechtes; Sprachkenntnisse, die unzureichend für ein Rechtsverständnis oder gar Verstehen des eigenen Arbeitsvertrags sind; Ausweitung des Niedriglohnsektors auf die neue Zielgruppe der Geflüchteten. Ganz zu schweigen von der profitablen Position, in die sich die Leiharbeit seit 2015 gebracht hat.

In anderen Worten: Eine Stimme für Arbeitsmarktzugang aber gegen Bildungs- und Sprachmöglichkeiten öffnen Tür und Tor für völlig unausreichende Arbeits- und Lebensbedingungen. Und ich dachte schon, die CDU Sachsen-Anhalt steht für “zukunftssichere Arbeitsplätze und faire Löhne” ein. Steht zumindest so im Wahlprogramm.

Beispiel: Die Sicherung und der Ausbau von Beratung

Hier setzt die CDU sich nicht dafür ein, dass “qualifizierte und behördenunabhängige Beratung für geflüchtete Menschen in Sachsen-Anhalt ausgebaut und langfristig abgesichert wird”.

Sie setzt sich auch nicht für die Förderung von “Auf- und Ausbau kostenloser Angebote für Audio- und Videodolmetschleistungen… wie medizinischer Behandlung” ein.

Gleichzeitig bekennt sie sich im Punkt medizinische Versorgung dafür, dass, “wer in Sachsen-Anhalt medizinischer Versorgung bedarf, diese ausnahmslos und ohne Einschränkungen erhält.”

Und wieder stellt sich die Frage: Wie soll eine bedarfsgerechte und ausnahmslose medizinische Versorgung aussehen ohne die Förderung eines gesicherten Beratungsnetzwerkes, was dann zu eben jenen Themen berät?

Die CDU verhält sich auch hier, als verstünde oder wüsste sie nicht, dass medizinische Versorgung für Geflüchtete nicht einfach durch den Gang zum Arzt oder einem Anruf bei der kassenärztlichen Vereinigung zur Terminvereinbarung getan ist. Ich meine, das klingt so normal. Aber spätestens wenn für Personen mit Behandlungsbedarf und geringen Sprachkenntnissen keine mehrsprachige Beratung zur Navigation unseres Gesundheitssystems gefördert wird (ergo: nicht oder nur stark eingeschränkt zur Verfügung steht), ist der Punkt “ausnahmslos” hinfällig. Hieße das im Umkehrschluss, dass die CDU Spracherwerb für eine Behandlung voraussetzt? Dann wäre der Punkt “ohne Einschränkungen” hinfällig.

Ich bin verwirrt. Aber ein Muster hätten wir schonmal erkannt: Die CDU scheint Sprachförderung nicht als zentrales Element in Integrations- und Schutzmaßnahmen anzuerkennen. Und dennoch bleibt der Spracherwerb eine unumgängliche Erwartungshaltung gegenüber Geflüchteten.

Beispiel: Der Schutz unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter

Die CDU möchte, dass “junge und minderjährige Geflüchtete in Sachsen-Anhalt herausgehobenen Schutz und Unterstützung erfahren”.

Klingt echt super. Und so humanitär. Aber wie soll auch das praktisch aussehen vor dem Hintergrund der Ablehnung von Beratungsförderung, Sprachförderung und der Anhörung migrantischer Selbstorganisationen, die diese Gruppe mit repräsentieren? Passend dazu enthält man sich sich selbstverständlich im Punkt “fachliche und ambulante Nachsorge nach Ende der stationären Jugendhilfe gewährleisten”. Das erscheint dann doch zu komplex.

Beispiel: Transparenz in der Verwaltung

Das gleiche Spiel: Hier möchte die CDU zwar “verbindliche Maßstäbe, die allerorts für faires und
transparentes Behördenhandeln sorgen”
. Im Punkt “erforderliche Übersetzungskosten im Sinne der behördlichen Informations- und Sorgfaltspflicht” enthält sie sich jedoch, gemeinsam mit der FDP. Wir reden hier in den meisten Fällen nicht mal von basaler Kommunikation, sondern von komplexem Bürokratendeutsch. Die Förderung interkultureller Schulungen für Behördenmitarbeitende im Kontext benannter Fairness wird von der CDU gänzlich abgelehnt. Ganz nach dem Motto: Bitte gern fair und transparent, aber keine Substanz. Und erst recht keine Gelder.

Beispiel: Rassismus und Diskriminierung sichtbar machen

Abschließen möchte ich mit einem Themenpaket, das ich für das aufschlussreichste halte. Klare Zustimmung geben CDU und FDP zur Frage, ob denn “Rassismus und Diskriminierung als eine reale und ernstzunehmende Gefahr für das körperliche und seelische Wohl der Bürger*innen betrachtet wird.”

Aber weder sollen “Rassismus und Diskriminierung in Sachsen-Anhalt (selbst)kritisch sichtbar gemacht und bekämpft werden” noch “ein Antidiskriminierungsgesetz auf Landesebene” erarbeitet werden. Enthaltung bei der CDU, gar Ablehnung bei der FDP. Man gibt frei heraus zu, dass Rassismus das Wohl vieler Menschen beeinträchtigt, zieht daraus aber keine Konsequenzen?

Schwammigkeit ohnegleichen. Es sind eben Lippenbekenntnisse, die nicht zu Handeln verpflichten, sich aber dennoch für einen einigermaßen fortschrittlichen und Toleranz-geprägten Wahlkampf eignen. Der Papiertiger.

*

Zuletzt noch einen Gedanken zum Thema migrantische Selbstorganisation. Die CDU setzt sich dabei nicht dafür ein, dass “Positionen der Selbstorganisationen von Migrant*innen und Geflüchteten bei Fragen, die Migration und Flucht betreffen, angehört und einbezogen werden”

Wichtig ist: Es geht in dieser Frage vorerst ausschliesslich um anhören und einbeziehen, noch nicht mal um gleichwertiges Mitbestimmen oder gar wählen (wobei die CDU selbstverständlich auch das passive und aktive Wahlrecht ablehnt).

Faktisch heisst das, nur Behörden und Gesetzgebende bestimmen über die Lebens- und Arbeitsrealität Geflüchteter. Aber diese Logik funktioniert selbst dann nicht, wenn man eine “Unser Land, Unsere Regeln”-Haltung vertritt. Denn sobald eine Partei wie die CDU sich vereinzelt für Belange Geflüchteter einsetzt, frage ich mich: Wie, glaubt sie, werden diese Bedarfe und Belange überhaupt erst benannt und behandelt?

Migrantische Selbstorganisation ist ein zentraler Teil der Bedarfsfeststellung. Wie kann man sich für den Schutz junger Geflüchteter, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeit, oder für bedarfsgerechte medizinische Versorgung aussprechen, ohne dabei die Zielgruppe dieser Forderungen überhaupt erst anzuhören?

Zur Erinnerung: wir sprechen von Organisationen wie dem Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V. (LAMSA e.V.), die beispielsweise im vergangenen Jahr während der Corona-Hochzeit im April maßgeblich für das Dolmetschen coronabezogener Informationen von der Zast-Leitung und vom Gesundheitsamts an die Bewohner zuständig waren. Da ist die Ablehnung der Mitbestimmung dieser und anderer Organisationen schon fast eine Frechheit.

*

Ich frage mich, auf welcher Grundlage die CDU und in Teilen auch die FDP überhaupt abgestimmt haben. Ich nehme dabei viel Schwammigkeit, nicht wenig Selbstgeweihräuchere und praktisch keine Substanz wahr. Will man sich augenscheinlich von der AfD distanzieren und einen oberflächlichen Ruf als Partei mit humanitären Ansprüchen wahren?

Ich kann nicht umhin, mir bei der CDU einen Mann im Sessel vorzustellen: Von der sicheren Bequemlichkeit aus zeigt sie mit dem Finger auf Probleme, aber rührt sich selbst nur bei schlechter Sicht, um den Sessel ein wenig näher zu rücken.

Dann hätte man es ehrlich gesagt auch lassen können.


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