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In seiner Kolumne “Letzte Runde” aus dem Spiegel 5/2023 bekundet Alexander Neubachers seinen Unmut darüber, welche negativen Konsequenzen der wachsende Wunsch nach mehr Work-Life-Balance für die deutsche Volkswirtschaft hat. Gastbloggerin IAmNilda hat mit diesem Leserinnenbrief dem SPIEGEL geantwortet.
Herr Neubacher, ich stimme Ihnen vollkommen zu, „[…] dass sich eine Volkswirtschaft wie unsere [die deutsche] nicht in Teilzeit betreiben lässt, ohne dass es zu Verlusten kommt“. Von welchen Verlusten Sie sprechen, wird schnell deutlich: Ihr Zeitungsabo wird nicht mehr jeden Sonntag in aller Frühe in Ihren Briefkasten geschoben, die Bäckerei, in der es ihre Lieblingsgebäckstücke gab, musste auch schließen, weil die Eigentümer kein Personal mehr fanden, und selbst die Post lässt Sie auf unschickliche Art im Stich. Ich wittere fast schon ein Anti-Neubacher-Wohlstandsbündnis…
Leider kommen Sie über die Traurig-und-benachteiligt-weil-gewohnter-Dienstleistungen-beraubt-Stufe ihrer Kolumne nicht hinaus. Stattdessen nehmen Sie generell Teilzeitbeschäftigte in Geiselhaft für die Dysfunktionalität Ihrer Wohlstandsgewöhnung. Sind Sie auch persönlich traurig, wenn es um alleinerziehende Eltern oder Frauen in überwiegend Heterobeziehungen gezwungen sind Teilzeit zu arbeiten, weil sonst das Care-System nicht funktioniert? Fühlen Sie sich auch benachteiligt, wenn ihr Arbeitgeber von Ihnen verlangt, in Teilzeit zu arbeiten, aber das nur offiziell, denn Sie müssen ständig Überstunden schieben, haben kaum Planungssicherheit bei Arbeitszeiten und der Lohn für die erbrachte Arbeit fällt unter den Tisch?
Es gibt zahlreiche Berufssparten, die harte körperliche Arbeit bei weit unterdurchschnittlicher Entlohnung erfordern – Zeitungen ausliefern, dem Bäckereihandwerk nachgehen, auch Servicekräfte in Postfiliale und Gastronomietätige zählen dazu. Zu blöd nur, dass gerade in diesen Berufen kaum Teilzeitbeschäftigte arbeiten, weil der Lohn es gar nicht zulassen würde. Stattdessen gibt es viele Menschen, die sogar nach ihrer Vollzeitbeschäftigung noch einen Minijob ausüben, damit es am Monatsende irgendwie ein bisschen früher reicht. Wahrscheinlich sehen Sie diese Menschen nicht so oft in Ihrem Leben.
Aber die Zuwander:innen haben Sie ja im Blick – denn die könnten diese Aufgaben übernehmen, wie Sie es formulieren. Wieso noch länger über soziale Mobilität, Bildungs- und Chancengerechtigkeit fabulieren, wenn die Antwort so naheliegend ist? Das ohnehin vorhandene Klassensystem müsste nur weiter zementiert werden, indem sichergestellt wird, dass zugewanderte und Kinder aus ALG2-Bezugsfamilien direkt in den Niedrigqualifikationssektor abgeschoben werden – was könnten die denn sonst noch vom Leben wollen?
Naheliegend – schließlich bezahlen die vermutlich weniger Miete, haben weniger Ausgaben für die Dinge des täglichen Lebens und brauchen auch weniger Geld für die Förderung ihrer Kinder, weil machen die ja eh nicht. Nicht, dass die auch noch als Ärzt:innen, Ingenieur:innen oder Lehrer:innen arbeiten wollen. Mutig, wenn Sie sich so verstanden wissen wollen im Jahr 2023.
Es muss schon schwierig sein, wenn die altersvorsorgende Eigenheimidylle eines studierten Kolumnisten und Wirtschaftsredakteurs des Spiegels plötzlich aus den Fugen gerät, weil die Frühstückslektüre nicht immer pünktlich kommt, die Brötchen jetzt zwei Straßen weiter gekauft werden müssen und ab 23 Uhr die Kneipenstimmung ins eigene Eigenheimwohnzimmer verlegt werden muss, da in der Bar nebenan schon die Schotten dicht sind.
Die Volkswirtschaft, auf die Sie hier rekurrieren – und die eigentlich eine soziale Marktwirtschaft sein soll – hat mehrere Logikfehler: angefangen bei der irrsinnigen Annahme, dass Wachstum immer nur mehr Gewinn und Zuwachs bedeutet – nicht aber Lebensqualität in Form von Zeit; dass Beschäftigte in nicht-akademischen Dienstleistungsberufen wenig Lohn und Anerkennung weitestgehend in Kauf nehmen müssten, während sie gewissenhaft und systemrelevant ihrer Arbeit nachgehen; dass Frauen seit den 50er Jahren mindestens zwei ganze Kinder oder mehr hätten bekommen sollen, damit es auch ja genug Arbeiter:innen gibt; und nicht zuletzt, dass das Rentenversprechen dieser so genannten sozialen Marktwirtschaft für Menschen unter 45 schon lange massiv bröckelt und ein tatsächlich generationengerechter Vertrag immer weiter aus dem Blick gerät, weil jetzt ja alle in ETF anlegen können – richtig?
Haben Sie schon mal überlegt, Ihr Abo in ein Online-Abo zu tranformieren? Würde auch der Umwelt helfen und wenn Sie es richtig angehen sogar einem vielfaltsorientierten Lokaljournalismus.
Und wenn Sie schon ernstlich ihre aktuelle Situation mit „The Walking Dead“ vergleichen, dann muss selbst Ihnen doch aufgefallen sein, dass Fachkräftemangel im Niedriglohnsektor dort thematisch nie ein Aufhänger war, denn die Zombie-Apokalyse macht auch vor der alten volkswirtschaftlichen Ordnung nicht halt und war insgesamt schneller als der demographische Wandel! Fun fact: Die Serie beinhaltete sogar postkapitalistische Ansätze wie Tauschhandel zwischen Gemeinden oder collective ownership.
Aber fairerweise muss man sagen: Ewiggestrige, die immer alles zu jeder Zeit haben mussten – die gab es auch da.