(c) Bild: Women’s March Juneau 98 von Gillfoto, lizensiert unter CC BY-SA 4.0

SERIE | Der Schutz westlicher Frauenrechte kontrastiert mit den globalen, gesellschaftsübergreifenden Thesen der Me Too-Bewegung. Damit erfährt das Thema sexuelle Gewalt zwei parallellaufende Formen der Aufmerksamkeit – mit weitreichenden Konsequenzen.

Dieser Artikel ist Teil 3 von 3 einer Serie über die Vielschichtigkeit von Fremdenfeindlichkeit.

Lesedauer: 8 Minuten


2014 bestätigte der Leiter des Jahresberichtes der Bundeswehr, es gäbe “kein Indiz, dass sexuelle Belästigung in der Bundeswehr ein größeres Problem wäre als in anderen Unternehmen.” Der Jahresbericht 2018 verzeichnete einen Anstieg von Vorfällen sexueller Übergriffe um 23 Prozent auf über 200, auch im Jahr 2019 liegen ähnliche Zahlen nahe.

Ein AfD-Wahlflyer des Thüringer Landesverbandes von 2016 stellte einmal fest, „Vorfälle sexueller Belästigung in Schwimmbädern gäbe es zwar schon immer, habe sich aber durch Übergriffe junger, männlicher Muslime verstärkt.“

AfD-Flyer aus Thüringen von 2016 (c) dimensiv

Fast parallel dazu summierten sich die Forderungen der globalen Me Too-Bewegung auf sozialen und zunehmend konventionellen Medien, darunter die reflektive und kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern.

Beispielhaft und statistisch belegt förderte die Me Too-Bewegung die Omnipräsenz sexueller Übergriffigkeit in allen Ecken der Welt zu Tage. Zeitgleich verlauteten Stimmen aus dem rechtskonservativen Spektrum insbesondere seit 2015, Frauenrechte erforderten besonderen Schutz.

Wer vermittelt welche Werte?

Der Doppeldiskurs im Kontext von Migrationskritik erlaubt es uns, Mängel unseres eigenen Kulturkreises zu akzeptieren. Gleichzeitig laufen Personen aus als kulturfremd wahrgenommenen Herkunftsländern Gefahr, willkürlich aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

Die Wahrnehmung von Gruppen statt Individuen macht dabei deutlich, welche Formen von Pauschalisierung mehr, und welche weniger akzeptabel sind: Unmöglich wäre die Durchsetzung von Einreiseverboten für Zielgruppen wie junge, amerikanische Universitätsstudenten und Athleten, Playboy-Manager, Hollywood-Schauspieler und Anhänger katholischen Glaubens auf Grundlage der Prävalenz sexueller Übergriffe in betroffenen Bereichen. Durchsetzbar innerhalb kürzester Zeit war dabei das pauschale Einreiseverbot der US-Regierung für alle Menschen muslimischen Glaubens.

Wir selbst nehmen uns als komplexen Kulturkreis wahr, scheren jedoch gleichzeitig Mitglieder anderer Gruppen kollektiv und differenziert über einen Kamm und priorisieren metaphorische Fremdbilder.

Das kennen wir sogar aus unserer eigenen Geschichte: Ersetzt man “Ostler” durch “Flüchtling”, liest sich dieser Artikel des SPIEGELS von 1990 ähnlich wie ein BILD-Artikel von 2015 über die “Flüchtlingswelle”.

Provokativ könnte man fragen: Soll Migranten gelehrt werden, dass die Erbostheit von Frauen über Alltagssexismus und unerwünschtes Flirten nicht ernstzunehmen ist?

Es ist eine Frage der Wertevermittlung: Wer vermittelt welche Werte an welche Gruppen?

In einem ZEIT-Artikel von 2015 über das Potenzial geflüchteter Menschen, produktiv zur deutschen Gesellschaft beizutragen, nimmt der Autor die Bewertung einer Umfrage wie folgt vor: „Bei der Aussage ‘wenn eine Frau mehr Geld verdient als ihr Partner, führt dies zwangsläufig zu Problemen‘ zeigten sich jedoch Unterschiede: Während 29 Prozent der Geflüchteten zustimmen, sind es bei der deutschen Vergleichsgruppe 18 Prozent.“

Unter journalistischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage der Objektivität: Was genau bedingt eine solche Formulierung? Wo liegt die Akzeptanzgrenze? Bei zwischen 18 und 29 Prozent? Wie hätte der Autor reagiert, hätte der Unterschied weniger als 11 Prozent betragen?

Die Gefahr von Generalverdächtigungen gegenüber migrantischen Mitmenschen liegt in ihren weitreichenden Konsequenzen in Bereichen des Alltags, die andere Gruppen nicht im selben Maße erfahren: durch paternalistische und pauschalisierende Aussagen, Anfeindungen auf der Straße, verschärfte Einwanderungsgesetze, die statistisch gesehen ungefährliche Mehrheit gesamtheitlich gefährdet.

Feminismus: Keine Statische Idee

“Feminismus ist für jeden da”, so das Schild einer Women’s March-Demonstrantin in Alaska.
Women’s March Juneau 98. (c) Gillfoto. Lizensiert unter CC BY-SA 4.0.

Zentral in dieser Thematik ist auch die Rolle, die Feminismus selbst spielt. Dabei ist Feminismus kein statisches Konzept, sondern sah sich oft konfrontiert mit Kritik, durchlief Wandlungen, erlebte Abzweigungen.

Die oft systematisch rassistische Vergangenheit der Bewegung erstreckt sich von den Suffragette-Bewegungen hin zu den jüngsten Frauenmärschen in westlichen Ländern. Viele moderne, westliche feministische Bewegungen werden zunehmend dafür kritisiert, kolonialistisch dominant gegenüber nicht-westlichen Frauengruppen zu agieren – zum Beispiel für den Versuch, ethnische Frauengruppen in nicht-westlichen Ländern von männlichen Unterdrückern zu befreien. Zentrale Kritikpunkte sind dabei die Missachtung eigenständiger Bewegungen, das Fehlbleiben nachhaltiger Unterstützung, und die primitive Darstellung von Männern.

Die Reduzierung dunkelhäutiger Männer auf wilde, animalische und kriminelle Gefahr für die weiße Frau des Westens in Literatur und Medien zielte insbesondere auf die Ausgrenzung des Fremdartigen ab. Sie diente in der Kolonialzeit und der Sklaverei dazu, ein Aufbäumen der kolonisierten Bevölkerung oder der Schwarzen, der “wild savages“, zu vermeiden.

Solche Bilder setzen sich rasant fest. Man denke nur daran, wie schnell es der Lehrerin und Aktivistin Jane Elliott mit ihrer mittlerweile berühmt-berüchtigten Anti-Rassismus-Workshopserie “Blue Eyed”, zu deutsch Blauäugig, gelang, Reibungen zu schaffen, in dem sie Teilnehmenden glaubhaft machte, sie seien besser gegenüber Braunäugigen, weil sie blaue Auge hätten.

In der Erkenntnis, welche Gefahren ein überwiegend simpler Feminismus für Migranten und Fremde darstellen kann, wendeten sich viele Feministinnen neuen Konzepten zu – wie zum Beispiel der Intersektionalität.

Hier argumentierte die Akademikerin Kimberlé Crenshaw, dass feministische Bewegungen des Westens von weißen Frauen ins Leben gerufen wurden, die oft aus gesellschaftlich gut situierten Schichten kamen. Diese hatten ganz andere gesellschaftliche Voraussetzungen als dunkelhäutige und ethnische BürgerInnen und ImmigrantInnen, die wiederum die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen von legalem Rassismus als Barrieren erlebten, mit vielschichtigen Konsequenzen für Berufswahl, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Wahlen, Gesundheit und Privatsphäre.

Crenshaw machte plastisch, dass ein alleiniger Fokus auf Frauenrechten im sozialwissenschaftlichen Kontext nicht ausreichte.

Kampf Der Kulturen

Diese Intersektionalität lässt sich besonders auf Männer anwenden, die allein aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion und Herkunft von vornherein im Alltag, im Beruf, im Privatleben Vorurteile antreffen – und keine dieser Identitätsmerkmale ablegen können.

Der Paralleldiskurs gegenüber Neuzugewanderten beim Thema sexuelle Belästigung und Gewalt ist dabei rein objektiv kein Alleinstellungsmerkmal aus dem stark rechten Diskurs. Auch in der breiteren Masse, in vermeintlich toleranten Parteien und Bewegungen, zeigen sich immer wieder ähnliche, pauschalisierende Sentimente (mehr dazu auch hier.)

*

Fragestellungen mit Potenzial für einen differenzierteren medialen Diskurs könnten sein:

Wie politisch und gesellschaftlich komplex sind muslimische und afrikanische Länder im Vergleich mit europäischen Ländern anhand ausgewählter Messwerte und Merkmale? Wie wir und wurde Männlichkeit in verschiedenen Gesellschaftssystemen instrumentalisiert? Welchen Einfluss haben jeweilige politische Vergangenheiten, Konflikte, Kriegen auf politische Systemen, sozioökonomische Strukturen, gesellschaftliche Bewegungen und Auslebung einer Kultur?

Ein Beispiel: der Anstieg von Vorfällen sexueller Belästigung und Übergriffen insbesondere zu Zeiten großer Protestbewegungen in nahöstlichen Ländern war nicht zuletzt politisches Kalkül der Regierungen, um erstarkende liberale Bewegungen im Keim zu ersticken, insbesondere in Folge des Arabischen Frühlings. Der Kampf gegen diese Strukturen war ein wichtiger Teil der Forderungen des Arabischen Frühlings selbst.

Wie können Frauen nachhaltig geschützt werden, ohne nicht-Betroffene durch Pauschalisierungen zu gefährden? Welche Formen von Sozialisierung sind in diesem Sinne akzeptabel? Welcher Umgang muss mit Betroffenen gepflegt werden, die von ihren Erfahrungen berichten, und wie kann dieser zur Reduzierung der Dunkelziffer beitragen? Und welche neuen Formen des empathischen Zuhörens können angewendet werden?

Samuel Huntingons prophezeiter Kampf der Kulturen wird nur Realität, wenn wir es zulassen.


Links Und Literatur Zum Weiterlesen



2 responses to “Migrationskritik und Me Too: Werte im Kontrast”

  1. […] Migrationskritik: Welche Werte Wollen Wir Vermitteln? […]

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  2. […] “Schützt unsere Frauen!” – Der Kampf der Kulturen June 29, 2019 […]

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